investigate!-Stipendiat Köksal Baltaci über seine Artikelserie „50 Jahre Gastarbeiter in Österreich“

Mit Hilfe des investigate! Recherche-Stipendiums veröffentlichte der Österreicher Köksal Baltaci, Redakteur im Ressort Chronik der Tageszeitung Die Presse, Mitte Mai 2014 zehn Artikel in einer Schwerpunktausgabe der „Presse am Sonntag“ zum Thema „50 Jahre Gastarbeiter in Österreich”. Baltaci, selbst Sohn türkischer Gastarbeiter, war insgesamt sechs Wochen auf Recherchereise in Österreich, der Türkei und Deutschland unterwegs. Hier schreibt er über die Motivation und die Entstehung seiner Artikelserie:

„Als Sohn von Gastarbeitern, die Ende der Sechzigerjahre aus der Türkei nach Österreich eingewandert sind, bin ich mit vielen, sagen wir, bizarren Geschichten über die Erfahrungen meiner Elterngeneration aufgewachsen. Geschichten über in Österreich verstorbene Verwandte und Bekannte, die sich illegal im Land aufhielten und daher in die Türkei geschmuggelt werden mussten, um sie dort zu beerdigen. Geschichten über junge türkische Männer, die 70- und 80-jährigen österreichischen Frauen Sexdienste erwiesen, und dafür Geld von ihnen bekamen bzw. bei ihnen wohnen durften. Geschichten über Kinder, die von ihren Eltern in der Türkei zurückgelassen wurden, und bis heute darunter leiden. Geschichten über Leute, die bei Investitionen der Gastarbeiter in der Türkei ihre eigenen Brüder und Cousins betrogen haben, um sich selbst zu bereichern.

Das sind alles Geschichten, die sich tatsächlich ereignet haben, die aber nie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Irgendwann wuchs in mir der Wunsch, jede einzelne Geschichte anhand von Betroffenen zu verifizieren und zu erzählen. Dafür habe ich mir viel Zeit genommen und jede Erzählung doppelt und dreifach überprüft, bevor ich sie glauben und wiedergeben konnte. So ist eine Schwerpunktausgabe mit Beiträgen enstanden, die noch nie in irgendeinem Medium im deutschsprachigen Raum zu lesen waren, und die dazu beitragen sollen, die vergangenen 50 Jahre türkischer Migration besser zu verstehen. Beispielsweise stammen die meisten in Wien lebenden Türken aus der mittelanatolischen Provinz Yozgat. In der gleichnamigen Provinzhauptstadt gibt es seit einigen Jahren sogar eine „Wien-Straße“. Wie es dazu kam, weiß kaum jemand in Österreich. Diesem Phänomen bin ich in dem Artikel „Yozgat – Heimat der Wiener Türken“ nachgegangen. Auch ich selbst bin während meiner Reise auf viele neue Aspekte gestoßen, aus denen Artikel entstanden sind. Der österreichische Botschafter in Ankara hat mich bei meiner Ankunft gefragt, was ich mit dieser Artikelserie bezwecke. Ich habe ihm geantwortet, dass ich ein bisschen zur Aufklärung beitragen und Menschen eine Stimme geben will, die ihre Geschichten seit Jahrzehnten mit sich herumtragen und nie aus erster Hand erzählen konnten. Das ist uns mit der ersten Schwerpunktausgabe geglückt. Weitere Beiträge werden folgen.“

Mehr zur Artikelserie von Köksal Baltaci lesen Sie hier.

 

Der 84-Jährige Sami Demir vor seinem Haus in der Türkei. 1964 saß er in einem der ersten Züge nach Wien saß. Ein Gastarbeiter der Stunde also. Er kehrte nach drei Jahren in die Türkei zurück und erzählt von der Willkommenskultur, die es in den ersten Jahren in Österreich gab.

Der 84-Jährige Sami Demir vor seinem Haus in der Türkei. 1964 saß er in einem der ersten Züge nach Wien saß. Ein Gastarbeiter der Stunde also. Er kehrte nach drei Jahren in die Türkei zurück und erzählt von der Willkommenskultur, die es in den ersten Jahren in Österreich gab.